www.literaturliste.chNichtlesen – zwei Literaturkritiken

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Verlag Antje Kunstmann, München 2007.

NZZ, 15./16. September 2007

Nichtlesen?

upj. Skepsis ist angesagt, wenn ein als «französischer Literaturpapst» gehandelter Mensch zwei hübsche Sätze von sich gibt, die umgehend auf der hinteren Umschlagseite eines beworbenen Bändchens erscheinen. «Das Buch schlechthin! Wunderbar, man muss in diesem Leben nur noch Bayard lesen.» Dessen kleines Opus – «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» – ersetze alle anderen Bücher, alte, neue, zukünftige. Doch Pivots Werbeschalmei tut dem Buch des französischen Literaturprofessors Pierre Bayard unrecht, denn es ist weitaus klüger, als die literaturpäpstliche Marktschreierei ahnen liesse. In der Tat: Es gibt der Bücher zu viele, als dass man auch nur einen Bruchteil lesen könnte. Ergo muss man sich in der schieren Fülle entscheiden. Wer sich für ein bestimmtes Buch entscheidet, wird notwendigerweise abertausend andere nicht lesen können; ein Befund, der in Musils «Mann ohne Eigenschaften» einen Bibliothekar aus schierer Verzweiflung zum Nichtleser macht. Sind Bücher, die man einst gelesen, in der Zwischenzeit aber vollständig vergessen hat, ungelesene Bücher? Darüber gibt Montaigne in den «Essais» eine lang mäandrierende Antwort. Wer Paul Valérys «Monsieur Teste» nicht gelesen hat, hat auch kein Vorbild im erfolgreichen Querlesen. Und wer Bücher nur vom Hörensagen kennt, dennoch aber über sie reden will, der studiere diese Technik erst einmal in Umberto Ecos «Name der Rose». Fazit: Man muss schon sehr viel gelesen haben, um sich das qualifizierte Nichtlesen leisten zu können.

NZZ am Sonntag, 30. September 2007

Macht Lesen beliebt?
Bücherlesen bildet. Für das Sozialleben ist übertriebenes Lesen dagegen eher hinderlich. Eine kritische Betrachtung von Martin Helg

Der Bücherherbst hat begonnen. Nun quellen die Neuerscheinungen wieder zu Hunderten über die Auslagen der Buchmessen, vielstimmig kommentiert von den Feuilletons. Sie zu kennen, ist Pflicht, sie alle zu lesen jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Wer es sich zur Aufgabe macht, wird Zehntausende von Lebensjahren darüber verpuffen, und an ein Ende kommt er nicht.
Vom Gedanken an die Endlichkeit der Lektüremöglichkeiten ist es nicht weit zum Entschluss, gar nichts zu lesen. Dafür spricht einiges. In seinem Buch «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» zitiert der Literaturwissenschafter Pierre Bayard eine Romanfigur Robert Musils, einen Bibliothekar, der Millionen von Büchern klassifiziert, ohne ein einziges aufzuklappen. Er tut dies nicht aus Ignoranz, sondern um seine Bücher besser zu kennen: «Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren. Er wird niemals den Überblick gewinnen!» Bücherkenntnis bedeutet also die Fähigkeit, sich in der Gesamtheit der Bücher so weit zurechtzufinden, dass man auch Ungelesenes in Bezug zu Gelesenem setzen kann.
Noch gefährlicher als für den einsamen Bibliothekar ist die übermässig genaue Lektüre im sozialen Leben. Hier spricht für das Nichtlesen, was schon der Publizist Dietrich Schwanitz messerscharf analysiert hat. Bildung ist gemäss Schwanitz nicht Detailhuberei, sondern Teilhabe an einer Glaubensgemeinschaft. Dabei ist wichtig, dass die kanonisierten Bildungsinhalte unhinterfragt bleiben. Wer sich etwa laut erkundigt, warum «Der Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt zur Bildung gehört, der Bestseller «Vollidiot» von Tommy Jaud dagegen nicht, macht sich allein schon dadurch zum Paria, dass er fragt. Wer die Hierarchie zwischen den Büchern dagegen kennt und anerkennt, erweist sich als würdiges Mitglied der Bildungsgemeinschaft – unabhängig davon, ob er sie gelesen hat oder nicht.
Als Banausen outen sich auch Partygäste, die mit detaillierter Textkenntnis auftrumpfen. Damit bringen sie Gesprächspartner in Verlegenheit, die die Bücher nicht gelesen haben, und verstossen gegen die Regel, dass literarische Bildung weder im Übermass gezeigt noch überprüft werden soll. Die Gewissheit darüber, dass man Bücher übergehen oder lesen und wieder vergessen darf, ist ebenfalls ein Stück Bildung; wer weiss, was er nicht weiss, gehört dazu. Nun braucht er nur noch ein paar Stichwörter, die er anderen Partygästen über die Stehtische hinweg zuspielen kann. Stichwörter sind aber selten das Resultat gründlicher Buchlektüre. Schneller und präziser sind sie aus Rezensionen zu gewinnen, etwa aus jenen, die ab dem 7. Oktober in «Bücher am Sonntag» erscheinen, der neuen Literaturbeilage dieser Zeitung.
Sind Bücher also gänzlich tabu? Nein. Dietrich Schwanitz plädiert dafür, einmal im Leben einen Roman zu lesen. Dieses Initiationserlebnis vergleicht er mit dem Bordellbesuch, der Bürgersöhne von früher in die Geheimnisse der körperlichen Liebe einweihte: Es kann dazu führen, dass man an der Sache gefallen findet. Danach erledigt sich alles von selbst: «Der Bordellbesuch war zwar entscheidend, aber die Wirkung, die er auslöst, verwischt seine Spuren. Von nun an übernimmt die Liebe das Kommando.» Mit diesem Navigationssystem vor Augen fährt man auf keiner Party schlecht.

Ralf Junghanns
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